Sonntag, 27. Juli 2008

Selma


Ein Tag wie Ölkreide, geformt vom Sommer und seinen feucht-instabilen Auswüchsen. Selma paddelt ufernah in der Kleinen Donau bei Halaszi. Der Fluss ist fast einen halben Meter über seinem Normalstand und strömt träge dahin. Da liegt was Matschiges, und Selma packt es mit dem Schnabel, um es hineinzumümmeln. Das war mal Brot. Sie ist heute morgen unsanft von einem Motorboot geweckt worden aus dem dünnhäutigen Entenschlaf, der einem Dösen gleicht. Selma ist depressiv, für eine Ente weitaus weniger dramatisch als für einen Menschen. Der Gesichtsausdruck der Ente ist zudem nicht differenziert genug, Gefühle auszudrücken, sodass letzten Endes nur ihr Verhalten signifikante Auffälligkeiten aufwies. So mied sie generell Artgenossen, ging auch jeder Rauferei um eine bescheuerte Brotkruste aus dem Weg, was sie bisweilen an den Rand des Hungertodes brachte. Fortpflanzung, für ihre Artgenossen ein erfüllendes Hobby, kein Thema für Selma, die auch nichts für diese kleinen Scheisser übrig hatten, die oft tollpatschig um sie herum taumelten. Wozu ihr Elend genetisch überliefern? So zog sie ihre einsamen Kreise am Ufersaum und in der Aulandschaft von Halaszi. Ihre Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber liess sie auffällig oft die Fahrrinne queren, ein frequentierter Highway für die frischgebackenen Geniesser ungarischen Wohlstandes. Oft unter Alkoholeinfluss, liessen die Freizeitkapitäne keine Gelegenheit aus, ihrem Lebensstandard durch Gas geben Nachdruck zu verleihen. Selma wurde nassgespritzt, geschleudert, unter Wasser gedrückt, aber nie kam sie in den Genuss von Lebensgefahr, den sie sehnsüchtig suchte. Oft liess sie sich apathisch mit der Strömung treiben bis in den späten Abend, um dann missmutig zurückzufliegen. Nach jedem Flug empfand sie ihr Dasein als noch bedrückender. Doch permanent Fliegen hätte sie auch nicht fröhlicher gestimmt, denn so sah sie diese elende Welt in ihrer ganzen Ausdehnung. Einzig, zu beobachten, wie andere zu Schaden kamen, liess in ihr eine kleine, ärmliche Sonne der Zufriedenheit ihre spröde, öde Entenseele wärmen. Neulich war Franz im Landeanflug gegen eine Wasserrutsche geknallt. So wohl hatte sie sich lange nicht gefühlt. Heute gab es das übliche Strandleben eines Sonntags. Weniger Leute als sonst, weil das Wasser beträchtlich abgekühlt hatte und die Hitze handzahm war. Zwei Neue hatten ihre Liegen am Ufer aufgestellt, auffallend stille Menschen. Sie las, er schien sich Notizen zu machen in eine Art Tagebuch. Mässig interessiert äugte Selma mit schiefgelegtem Kopf zu den beiden hinüber. "Ob Menschen depressiv sein können?", fragte sie sich plötzlich.


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