2 junge hübsche Helferinnen assistieren der Zahnärztin. Männlich herb ihre Stimme, die etwas ungläubig auf meine Ansage "Ftarke Fmerpfen unterm Backenzahn" gnadenlos die Gegenthese formuliert: "Im Röntgen sieht man nichts, der Zahn sieht gut aus". Wohl aber sei die Füllung kaputt, also raus damit. "Fpritze?" versuche ich noch vorzuschlagen, als bereits der Bohrer mit der Arbeit beginnt. "Der Zahn ist eh tot". Was immer an Entzündung da drinnen war, wird gerade unter einem fetten Amalgamfladen versiegelt, um mich weiter zu quälen. Ich fühle mich wie Gorleben mit der Zeitbombe in mir und werde mit Schmerzmittel und einem Antibiotikum ins eisige Floridsdorf entlassen. Vorm Zahnarzt sind wir alle gleich: Kleine Scheisser voller Angst und Pein.
Donnerstag, 9. Dezember 2010
Zahnarzt Emergency im 21.Bezirk Wien
Enges Wartezimmer mit Sperrmüllfeeling. Aus dem Fenster springe ich in den Hof eines dieser grauen Gemeindebauten im Kasernenstil mit seinen noch graueren Bewohnern, tristen Einfahrten, suizidären Stiegenhäusern. Nicht mal eine Klingel für Frau Doktor. Von oben tropft ein Paar. Der Mann hält ein Taschentuch auf seinen Mund gedrückt, als hielte er einen angestauten Müllhaufen aus Eiter, Zahnfleischfetzen, Knochen- und Zahnsplittern in einem schäumenden Meer aus Blut zurück, das den 21. Bezirk wie die Mure Gottes. Das wäre die Erlösung für das lebensmüde Floridsdorf. Wir folgen der Blutspur und finden die Ordination von Frau Dr. M. Meine Frau nimmt Platz am Fenster bei dem winzigen Zeitschriftentisch mit seinem Turm aus Boulevard, etwas zerfetzt und zerfleddert. Vor uns sind etliche, uns gegenüber eine schnauzbärtige, männliche Kugel, schweigsam, den Blick des Delinquenten vor der Hinrichtung gesenkt. Wer hier sitzt, kennt seine Sünden, ahnt seine Strafe und hofft auf ein besseres Danach. Ein junger Mann rennt nervös herum, brabbelt vor sich hin. Als er drin ist, gibt es Geschrei. Dr. M. schreit ihn an, droht mit der Polizei und schmeißt ihn schließlich raus. Er faselt noch etwas von "Die kannst du vergessen" und verschwindet. Einer von beiden ist ein Psychopath, ich hoffe der Junge, fürchte aber gleichzeitig die Alternative. Schnauzbart ist dran und kommt schnell wieder raus. Sein Gesicht drückt pure Verzweiflung aus und er spricht in gebrochenem Deutsch von dem grausamen Urteil: Er wird nur noch 2 Schneidezähne behalten. "Sähe ich aus wie Osterhasse", spricht aus ihm der pure Galgenhumor. Wir sehen uns an und lachen ein verhaltenes Lachen, nicht schadenfroh, eher trotzig im Sinne von: Wir lassen uns nicht unterkriegen. Ab diesem Moment ist er menschlich für mich, nicht mehr der Schnauzbart, sondern der arme Kerl mit dem Schnauzbart, zukünftig der Osterhase, bzw. Österhase, wenn er eingebürgert wird. Und jetzt bin ich dran. Die Praxis erinnert mich an die Werkstatt des Russen in Minority Report, der Tom Cruise neue Augen einsetzt, irgendwie schmuddelig, alte Geräte, wie aus dem zahnärztlichen Museum. Vielleicht liegen auch archivierte Schmerzen herum in einer kleinen Kammer in versiegelten Aluröhrchen. Keine Aufschriften, nur eine zehnteilige Schmerzskala und ein Strichcode.
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